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Prof. Dr. Dr. Gunnar Heinsohn, am 12.09.2015:

Rund ums Mittelmeer spielt sich die grösste Migration der Geschichte ab. In ihren demografischen Grundlagen gleicht sie der Auswanderung aus Europa in der frühen Neuzeit.
In der Schweiz ist es friedlich. Auf 100 Einwohner zwischen 55 und 59 Jahren kommen 80 15- bis 19-Jährige. Das ergibt – wie ich das Verhältnis nenne – einen Kriegsindex von nur 0,8. Die Schweizer Jugend hat die besten Lebenschancen daheim. Aufgrund ihrer Qualifikationen rollen ihr aber auch viele Länder den roten Teppich aus, weil diese ebenfalls zu wenige Kinder haben und Talente suchen. Der Schweizer Nachwuchs kann die Weltkarte wie eine Speisekarte studieren. Wo er bleibt oder hingeht, reibt man sich die Hände.
Das subsaharische Afrika kämpft dagegen mit einem Kriegsindex von 5. Das heisst: Um 100 Positionen, die Ältere frei machen, konkurrieren 500 jüngere Menschen, die ins Leben eintreten. Eine Geburtenquote von einst 7 bis 8 und heute immer noch 4 bis 5 Kindern pro Frau liess die Zahl der Menschen dort zwischen 1950 und 2015 von 180 auf 962 Millionen steigen. Die Schweiz wäre bei gleichen Raten von 4,7 auf 25 und nicht nur auf 8,3 Millionen Einwohner gewachsen.
Afrikas beste Schüler – sie kommen aus Ghana – schafften 2011 bei der Mathematik- Olympiade im Schnitt 331 Punkte. Wenn die Achtklässler aus Ghana dereinst den Anschluss an die Sieger aus Südkorea (613 Punkte) oder auch nur an das beste EU-Land, Finnland (514 Punkte), schaffen, dann wird man sich um sie reissen. Allein der EU fehlen bis 2050 rund 70 Millionen Migranten, um die fehlenden Geburten auszugleichen. Die Wirtschaftsflüchtlinge aber, die momentan Europa erreichen, sind meist genauso schwer vermittelbar wie der eigene Nachwuchs mit Mathe-Schwäche. Die Menschenwürde aber bemisst sich nicht nach Karrierechancen oder Schulnoten, sondern ist für alle gleich. Wer aus Afrika kommt und hier nichts verdienen kann, muss deshalb von den Einheimischen Geld bekommen.
Wenn auf dem afrikanischen Kontinent tatsächlich 38 Prozent der Menschen wegwollen, wie das Umfrageinstitut Gallup 2009 ermittelt hat, stehen im subsaharischen Raum derzeit 370 Millionen Wanderungswillige bereit. Aus dem arabischen Raum werden zusätzlich 85 Millionen erwartet.
Und das sind optimistische Raten, da sie vor dem Ölpreisverfall und den arabischen Kriegen erhoben wurden. Nie zuvor wollten so viele in so kurzer Zeit über fremde Grenzen.Die gegenwärtige Migration wird darum oft mit der Völkerwanderung im 4. Bis 6. Jahrhundert verglichen. Das ist falsch. Die Flüchtlingsströme unserer Zeit gleichen eher der Auswanderungswelle, die zu Zeiten des Kolonialismus von Europa ausging, das damals Geburtenquoten hatte wie heute Afrika. Diese war – im Unterschied zu heute – allerdings ungemein blutig. Zur Zeit der europäischen Welteroberung zwischen 1500 und 1800 machten sich 10 Millionen Menschen auf die gefährliche Seereise. Mathematik zählte noch wenig, weil zumeist überzählige Bauernsöhne Ackerland suchten und dafür riesige Flächen benötigten. Sie eroberten sie und ermordeten die ansässige Bevölkerung. Und während sich damals die Europäer die Erde aufteilten, tobten bei ihnen zu Hause stets Kriege. Asyl oder Rechtsschutz für die Bevölkerung gab es nirgends, nur Sieg oder Niederlage. Erst 1946 begründete die Uno das internationale moderne Asylrecht, wie wir es kennen. Niemand bedachte damals, bei 2,4 Milliarden Erdenbürgern, was solche Regeln heute, bei 7,4 Milliarden Menschen auf der Welt, bewirken würden. Wenn in Ländern mit einem Kriegsindex ab 3 – ab da wird es kritisch – 10 000 zornige Jünglinge im Namen irgendeiner gerechten Sache mit Waffen um Positionen kämpfen, verwandeln sie ihre 10 oder auch 100 Millionen Mitbürger dort automatisch in Bewohner von Kriegsgebieten, in die diese nach ihrer Flucht nicht zurückgeschickt werden dürfen. Jede Revolte transformiert illegale Wirtschaftsflüchtlinge in Bedrängte, deren Zurückweisung widerrechtlich ist.
Die Kolonisten von heute sind weitgehend friedlich, sie suchen kein Ackerland, sondern träumen von den Millionenstädten der Ersten Welt. Aber können die 500 Millionen EU-Bürger mit ihren riesigen Schulden und unbezahlbaren Rentenversprechen wirklich noch einmal so viele Menschen als Migranten absorbieren? Immer mehr Staaten gehen andere Wege, sichern ihre Grenzen militärisch und lassen nur noch die Kompetenten auf ihr Territorium. Vergleichsweise offene Länder schultern dadurch zusätzliche Lasten, weshalb ihre besten Talente wiederum in die Kompetenzfestungen umziehen. Schon jetzt liegen acht der zehn lebenswertesten Metropolen in Australien, Kanada und Neuseeland. Grossbritannien macht seine Grenzen inzwischen ebenfalls dicht, weil bereits 2,3 Millionen seiner Könner irgendwo zwischen Vancouver und Auckland wohnen. Andere Regierungen – in Stockholm, Paris oder Berlin – bewerten den Einsatz für flüchtende Menschen höher als ökonomische Zukunft und sozialen Frieden. Die grösste Migration der Geschichte könnte für ganz neue Grenzziehungen sorgen.
Quelle: „NZZ am Sonntag“ vom 30. August 2015