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Prof. Dr. Dr. Gunnar Heinsohn, Bremen am 31.03.2015:

Als „Jugend Allahs“ preist schon Osama bin Laden (1957-2011) die jungen Männer seiner jemenitischen Heimat. Zwischen 1960 und 2015 explodiert ihre Bevölkerung von 5 auf 26 Millionen, obwohl ununterbrochene Kriege und Bürgerkriege zwischen 1962 und heute das Potenzial künftiger Familienväter um mehrere Zehntausend Krieger reduziert haben.
Der gegenwärtige Konflikt wird zumeist als Religionskrieg zwischen Sunniten nebst ihren saudischen Beschützen sowie Schiiten und ihren iranischen Verbündeten abgehandelt. Nun sind religiöse Terrortheorien nichts Neues. Schon im 16. Jahrhundert erklären aztekische Priester spanische Gräuel daraus, dass der Gott Kastiliens Tote lieber möge als Andersgläubige. Die Spanier hingegen nennen ihre Konquistadoren secundones, weil ihnen seit der 1484er Todesstrafe auf Geburtenkontrolle Zweit- und Nachgeborene fast ohne Limit zur Verfügung stehen. Die Azteken können nicht ahnen, dass im fernen Europa plötzlich acht Kinder pro Familie aufwachsen und nicht zwei bis drei wie im Mittelalter oder bei ihnen selbst.
Obwohl demographische Fakten heute per Mausklick auf den Bildschirm kommen, bleiben sie oft so unzugänglich wie im alten Mexiko. Zugleich täuscht das Kürzel Religionskrieg eine schnelle Orientierung vor, die gerne noch um den Faktor absolute Armut ergänzt wird, um gewissermaßen alles klar zu machen.
Wie kann man diese populäre Sichtweise überprüfen? Durch den Blick auf Länder, die einen vermeintlichen Religionskrieg beendet haben, ohne dass ihre Glaubensbekenntnisse hinfällig geworden wären. So bringen sich etwa in Algerien zwischen 1992 und 2000 knapp 200.000 Menschen unter den Fahnen von Islamismus und gewöhnlicher Frömmigkeit gegenseitig um. Seitdem tritt zunehmend Frieden ein. Gleichwohl würden sich die Algerier verbitten, weniger gottgefällig zu sein als die Jemeniten.
Warum wird das – zwischen 1960 und heute von 11 auf 39 Millionen Einwohner springende – Maghreb-Land ruhig, der Süden der arabischen Halbinsel aber nicht? Zwischen 1955 und 1975 ziehen Algeriens Frauen durchweg drei bis vier Söhne auf. Die total fertility (Kinder pro Frauenleben) erreicht Extremwerte von 7 bis 8. Die Jungen werden zwischen 1975 und 1995 wütende Zwanzigjährige. Schon seit den 1970er Jahren jedoch gibt es kaum noch bäuerlich nutzbares Land für die Versorgung der Überzähligen. Zugleich trifft der traditionelle Ausweg des Umzugs nach Frankreich auf immer stärkeren Widerstand aus Paris.
Zuerst wählen die Kühnsten den Aufstieg durch Gewalt, wobei für den Angriff auf die Eliten alle Varianten von der Raubkriminalität bis hin zum theologisch gerechtfertigten Bürgerkrieg eingesetzt werden. Die vor Ort entwickelte Methode der Dörferabschlachtung dort, wo das Militär nicht schützen kann, erfordert weit mehr Opfer als die Enthauptungen durch das Kalifat, muss aber noch ohne Internetauftritt auskommen.
2015 wird Algeriens Geburtsjahrgang von 1995 zwanzig. In jenem Jahr liegt die total fertility nur noch bei 3,5. Nicht einmal mehr zwei Söhne gibt es pro Familie. Der Nachschub an Rekruten für Bewegungen, deren Anhänger auf Sieg oder Heldentod setzen, versiegt. Obwohl Algerien ungebrochen zur Umma gehört, bleibt es im Sektor des heiligen Krieges bei einzelnen Mordanschlägen und Entführungen.
Algeriens Kriegsindex ist herunter auf 2,2, im Jemen aber steht er bei 5,65. Außerhalb Afrikas übertreffen nur Afghanistan und Gaza dieses Maß. Auf 100 jemenitische Männer im Alter von 55 bis 59 Jahren, die alsbald eine Position räumen, folgen 565 Jünglinge, die darum den Kampf aufnehmen müssen. Dafür sind sie mental und körperlich besser gerüstet als je zuvor, weil parallel zur Bevölkerungsexplosion das Prokopfeinkommen zwischen 1989 und 2013 von 290 auf 1400 US-Dollar steigt (undata; CIA-Fact nennt 2500 Kaufkraftdollar). Litte Jemen dagegen an absoluter Armut, würde ein großer Teil der Jungen bereits vor Erreichen des Kampfalters an Unterernährung zugrunde gehen. Hunger bricht uns das Herz, stellt aber militärisch keine Bedrohung dar.
Skelette können Panzerfäuste oder Maschinengewehre nicht über Berge oder durch Wüsten schleppen. Sie betteln um Brot, für den Kampf um Positionen dagegen braucht es Kondition. Deutschlands Kriegsindex beträgt mit 0,7 nur ein Achtel des jemenitischen und macht nachvollziehbar, warum aus Aden kommendes Interventionsbegehren in Berlin auf taube Ohren stoßen muss. Österreichs Index erlaubt trotz eines leicht höheren Wertes von 0,8 ebenfalls keine militärischen Expeditionen. Auch 2010 steht der Jemen noch bei gut sechs Kindern pro Frauenleben. Die drei bis vier Söhne pro Mutter erreichen ab 2030 ihr zwanzigstes Lebensjahr. Mindestens noch eineinhalb Jahrzehnte lang kann eine Familie den Verlust von zwei Kriegern absorbieren, ohne ein Reißen der Generationskette zu riskieren. Deshalb muss die Hoffnung auf einen unblutigen Ausgleich der grotesken Diskrepanz zwischen Ambitionen und verfügbaren Positionen immer wieder auf Enttäuschungen gefasst sein. 2035 tritt der Jahrgang 2015 ins beste Kampfalter. Er hat nur noch zwei Jungen pro Mutter. Deshalb sollte in zwanzig Jahren auch der Jemen allmählich auf den algerischen Weg überwechseln.
 
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Heinsohn (*1943) lehrt Militärdemographie am „NATO Defense College“ (NDC/Rom) und an der „Bundesakademie für Sicherheitspolitik“ (BAKS/Berlin). In „Söhne und Weltmacht“ (Zürich: Orell und Füssli) hat er 2003 die arabischen Kriege vorausgesehen.