Heute noch weitere Gedanken zur Hierarchie, weil dieses Thema derzeit so viele beschäfigt, in den HR-Abteilungen, den Management-Ausbildungen und in vielen Medien.
Im letzten Posting sagte ich: In der Praxis von kybernetischem und deshalb effektivem Management geht es nicht um die Hierarchie als personifizierte Macht.  Die Funktionalität von Hierarchie ist Verantwortung. Sie ist die einzig haltbare Legitimierung von Hierarchie.
Gerade in sehr komplexen Situationen ist eines der wichtigsten Funktionsprinzipien einer Organisation die Klarheit und Unteilbarkeit von Verantwortung. Ich wählte für dieses Funktionsprinzip schon vor vielen Jahren den Begriff: One Point Responsibility. Verantwortung, die über ein System verteilt ist, funktioniert im Ernstfall nicht. Oft ist daher die One Point Responsibility auch eine One Person Responsibility. Aber diese ist nicht notwenigerweise auch der Chef eines Bereiches.
So ist zum Beispiel der Air Traffic Controller eines Flughafens nicht der Vorgesetzte der Piloten, die er steuert und koordiniert. Dennoch hat er in definierten Situationen die alleinige Entscheidungsgewalt – die One Person Responsibility. Air Traffic Controller sind die Lotsen für die rund 1500 Flugbewegungen, die etwa allein in Frankfurt täglich zu koordinieren sind. Weltweit sind es mehr als 200 000 pro Tag. Diese Leute, Profis auf ihrem Gebiet,  sorgen für einen reibungslosen Flugverkehr unter allen denkbaren Bedingungen – vor allem Wetterbedingungen. Relativ zur Dichte des Flugverkehrs sind Unfälle eine Seltenheit. Der hierarchisch-disziplinarische Weg – also der Chef-Hierarchie Weg –  ist davon aber gänzlich verschieden. Dieser läuft über die Chefpiloten.
One Point Responsibility kann aber auch einem Gremium zugewiesen sein. Im Einzelfall durch Gesetz, wie im Vorstand und Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft, oder per Satzung oder Statut, wie typischerweise im Falle von Beiräten, wie sie in jeder Organisation bestellt werden können. Für den Notfall,  für den ganz rasches Handeln notwendig ist, würde man dennoch eine Einzelperson oder eine ganz kleines Sondergremium – ein „Emergency Committee – bestellen.

Funktionsprinzip: Redundancy of Potential Command

Ein wichtiges Funktionsgesetz, das Hierarchie zum Funktionieren befähigt, ist Redundancy of Potential Command – „power resides where information resides“ – wie es sein Entdecker, der Neurophysiologe und Kybernetiker Warren McCulloch 1965 bezeichnete. Es bedeutet, dass die Macht nicht notwendigerweise in der Hierarchie eines Systems begründet ist, obwohl es eine Macht hat. Das „Kommando“ liegt jeweils dort, wo die situativ jeweils beste Information zusammenkommt. Physiologisch-funktionelles Vorbild hierfür sind die neuronalen Netze.
Unser Hirn hat zwar hierarchische Funktions-Strukturen, aber keinen „Chef“ im üblichen Sinne. Sondern „Macht und Kommando“ liegen bei jenen ständig wechselnden Neuronennetzen, die im Augenblick die relevanteste Information besitzen.
Beim Fussball sind Power and Control dort, wo der Ball ist. Auf der Metaebene der Regulierung des Spiels liegen Macht und Steuerung beim Schiedsrichter, der aber wiederum nicht der Chef der Spieler ist.
Dies ist eine zeitgemässe – und funktionierende Idee des Abbaus – nicht von Hierarchien – sondern von starren und sturen Hierarchien: Die Idee der Verlagerung von Aufgaben, Entscheidungen, Kompetenzen und Verantwortung dorthin, wo – unabhängig von bestehenden, überlieferten oder gar „vererbten“ Hierarchien – grösstmögliche Situations- und Sachkenntnisse gegeben sind.
Nicht nur die Wirtschaft hat die bitteren Erfahrungen gemacht, dass die einsamen Entscheidungen an der Spitze einer Hierarchie desaströs sein können. Hierarchien sind einerseits anfällig für Machtmissbrauch und Korruption als Element der Erhaltung der Macht als solcher. Andererseits sind in Hierarchien mit wirklich fähigen Personen mit umfassender Entscheidungsvollmacht an der Spitze auch die vielleicht wichtigsten Werke entstanden und grosse Taten vollbracht worden – so in Architektur, Kunst und Musik, in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.
Vor der Entscheidung, Schloss Versaille zu bauen, hat Ludwig XIV möglicherweise viele Personen konsultiert. Ohne ihn selbst, und seine unbeschränkte Entscheidungsgewalt, wäre es aber eher nicht entstanden.
Hat Beethoven aber vor dem Schreiben eines Konzertes jemanden konsultiert? Hat Michelangelo Teamsitzungen abgehalten für seinen Entwurf der Sixtina. Seine teuer angeheuerten Helfer hat er bekanntlich aus den Verträgen entlassen und davongetrieben, weil sie ihm Löcher in die Mauern schlugen, um die Gerüste aufzustellen, was er für ein Sakrileg hielt. Hat Einstein Konsultationen durchgeführt, als er an seiner Relavitiätstheorie gearbeitet hat?
Es können durch Hierarchie einem System Funktionalitäten gegeben werden, die es sonst nicht hätte; man kann ein „System laufen lassen“, indem man absichtlich nichts tut und dazu auch die Macht hat. Und genauso können Dysfunktionen – auch durch das Nichteingreifen – ausgelöst werden. Die Art und Weise wie Hierarchie gehandhabt wird, kann negative oder positive Folgen haben.